Elektroautos speisen den Strom zurück ins Netz, wenn sie nicht gefahren werden

Können bidirektional ladende Elektroautos zu einer nachhaltigen Energiezukunft beitragen? Daniele Farrace vom Tessiner Verteilnetzbetreiber Azienda Elettrica di Massagno (AEM) hat keinen Zweifel daran. Der Ingenieur zeigt, wie dies dereinst funktionieren könnte.

Text   Daniel Schriber

22.09.2023

  • Nachhaltigkeit

Es ist erst halb zehn Uhr morgens, die Sonne brennt bereits erbarmungslos vom Himmel. Als wir Daniele Farrace an einem Mobility-Standort in Tesserete in der Nähe von Lugano treffen, zeigt das Thermometer über 30 Grad. Keine idealen Bedingungen für ein Video-Interview – doch der 36-jährige Tessiner lächelt, trotz Hemd und langen Hosen. «Die Hitze passt ja gut zum Thema.» Die Temperaturen, die Ende August in der ganzen Schweiz herrschten, seien selbst für Tessiner Verhältnisse «überdurchschnittlich», so der promovierte Ingenieur (ETH). Ein idealer Zeitpunkt, um über die Energiewende zu sprechen.

Farrace ist Chief Innovation Officer beim Verteilnetzbetreiber Azienda Elettrica di Massagno (AEM) SA. Die Firma beschäftigt etwa 25 Mitarbeitende und betreut rund 9'000 Kunden. «Wir sind klein, gerade deshalb müssen wir innovativ und agil sein», betont Farrace. Und das ist der lokale Netzbetreiber: Anfang Jahr wurde das Unternehmen mit dem Energiepreis Watt d'Or ausgezeichnet. Grund für die Ehre war ein Projekt im kleinen Dorf Lugaggia, wo die AEM dank eines intelligent vernetzten Zusammenschlusses von Stromverbrauchern und Solarproduzenten den Eigenverbrauch der Gemeinde markant erhöhen konnte. Für Farrace sind solche Auszeichnungen kein Grund, sich zurückzulehnen – im Gegenteil. «Je schneller wir die Energiewende vorantreiben können, desto besser.»

Eigene Stromproduktion wird optimiert

Ähnlich wie in Lugaggia, hat die AEM auch in den Gemeinden Massagno und Tesserete verschiedene Häuser zu einem sogenannten Zusammenschluss zum Eigenverbrauch (ZEV) verknüpft. Dabei handelt es sich um Gruppen von Haushalten sowie Gewerbe- und Freizeitliegenschaften, die Energie aus erneuerbaren Quellen erzeugen und gemeinsam nutzen. Und hier kommt das Projekt «V2X Suisse» ins Spiel: Die Idee bei V2X beziehungsweise beim bidirektionalen Laden besteht darin, dass Elektroautos nicht nur Strom verbrauchen, sondern diesen ins Netz zurückspeisen, wenn sie nicht gefahren werden. «Die Technologie ermöglicht es uns, tagsüber die Überproduktion aus unseren Fotovoltaikanlagen in den Batterien der Autos zu speichern. Abends, wenn die PV-Anlagen keinen Strom mehr produzieren, ziehen wir die Energie vom Auto zurück ins lokale Netz.» Erst wenn die verfügbare Energie verbraucht ist, wird das öffentliche Stromnetz angezapft. Bei der Steuerung dieses Prozesses setzt die AEM auf einen intelligenten Algorithmus. Er schätzt die Lastprofile der aggregierten Haushalte aufgrund von früheren Verbrauchsdaten und aktuellen Wetterprognosen ab. 

Wo finde ich ein V2X-Auto? Bis März 2024 sind schweizweit 50 Honda e-Modelle an 40 Mobility-Standorten verfügbar.

E-Autos bergen «gewaltiges Potenzial»

Daniele Farrace glaubt fest an die Zukunft von V2X – weshalb er sich mit vollem Engagement für sein Nebenprojekt von «V2X Suisse» engagiert. Dies nicht zuletzt, weil im Jahr 2035 gemäss Schätzungen rund 2 Millionen Elektrofahrzeuge auf den Schweizer Strassen unterwegs sein werden. «Diese Entwicklung birgt ein gewaltiges Potenzial.» Zum Vergleich: Während das Kernkraftwerk Leibstadt heute eine Nennleistung von etwa 1,22 Gigawatt elektrischer Energie erreicht, haben 2 Millionen E-Autos das Potenzial für rund 15 Gigawatt Strom. 

In einem nächsten Schritt will der lokale Netzbetreiber Azienda Elettrica di Massagno gemeinsam mit seinen Partnern des V2X-Nebenprojekts Mobility, Primeo Energie, dem Elektrizitätswerk der Stadt Zürich, der Fachhochschule Nordwestschweiz sowie der Ostschweizer Fachhochschule Geschäftsmodelle entwickeln, damit sich das V2X-Modell in Zukunft wirtschaftlich lohnt. Farrace betont, dass die Herausforderungen hier nicht primär im technischen Bereich liegen. «Die Technologie ist da und funktioniert. Was es braucht, sind die passenden Rahmenbedingungen», so Farrace. Die Gesetzgebung und die Regulatorien in der Schweiz seien noch zu konservativ. Davon lässt sich der Ingenieur nicht beirren. «Mit unserem Engagement wollen wir einen aktiven Beitrag zur Energiewende leisten.» Um dieses Ziel zu erreichen, nimmt der V2X-Pionier gerne Interviews bei über 30 Grad in Kauf.

Dieser Beitrag entstand bei Projekthalbzeit im Herbst 2023.

Was ist «V2X-Suisse»?

Das zeitlich begrenzte Forschungsprojekt lief operativ von Herbst 2022 bis Frühling 2024. Dabei wurden 50 bidirektionale Honda-e-Autos in den regulären Carsharing-Betrieb von Mobility integriert. Es war der erste grossflächige Test mit bidirektional ladenden E-Autos in der Schweiz. Er sollte zeigen, wie sich dank dieser Technologie Lastspitzen im Stromnetz brechen lassen und wie Standorte mit Solaranlagen ihren Eigenverbrauch optimieren können. Zudem wollte man das betriebswirtschaftliche Potenzial von bidirektionalen Fahrzeugen in der Schweiz untersuchen und den Wettbewerb zwischen den potenziellen Flexibilitätsabnehmern auf drei Netzebenen (Swissgrid, Verteilnetzbetreiber und Zusammenschluss zum Eigenverbrauch) testen.

Der Schlussbericht wird im Sommer 2024 auf ARAMIS (der Forschungsdatenbank der Bundesverwaltung) publiziert. ARAMIS - Die Forschungsdatenbank der Bundesverwaltung - Startseite (admin.ch)

Fazit: Das Projekt hat die technische Machbarkeit bewiesen und der bidirektionalen Technik Schwung verliehen. Es zeigte auf, dass neben dem bewährten V2H (Vehicle-to-Home) auch V2G (Vehicle-to-Grid) technisch funktioniert, sowohl netz- als auch systemdienlich. Ein wirtschaftlicher Betrieb für ein Carsharing-Unternehmen rechnet sich aktuell aber noch nicht.

Nebst Mobility waren folgende Unternehmen bei dem Projekt dabei: Automobilhersteller Honda, Software-Entwickler sun2wheel, Ladestationen-Entwickler EVTEC, Aggregatoren tiko, wissenschaftliche Begleitung durch novatlantis, in Zusammenarbeit mit der ETH. Das Projekt wird durch das Pilot- und Demonstrationsprogramm des Bundesamts für Energie BFE unterstützt.

Bilder Copyright: Patrick Besch

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