«Wer Autobahnen sät, wird Verkehr ernten»

Zwischen E-Mobilität, öV und Muskelkraft: Mobilitätsforscher Thomas Sauter-Servaes erklärt, was es braucht, um die langfristige Verkehrswende zu schaffen – und warum noch viele Menschen am eigenen Auto festhalten.

Text   Daniel Schriber

21.05.2024

  • Zukunft

Thomas Sauter-Servaes, Mobility will seine Flotte bis 2030 komplett elektrifizieren. Welche Bedeutung hat dieser Entscheid fĂĽr die Zukunft der Mobilität? 

E-Mobilität ist nicht alles, aber ohne E-Mobilität ist alles nichts. Wir brauchen die Antriebswende, mĂĽssen uns aber bewusst sein, dass diese allein noch keine Mobilitätswende darstellt. Entscheidend ist etwa, woher der Strom fĂĽr die Fahrzeuge kommt. Obwohl E-Autos «grĂĽner» werden, gibt es sowohl bei der Nutzung als auch bei der Herstellung noch einiges zu holen. Das Hauptproblem ist aber ein anderes. 


Nämlich? 

Wir können nicht einfach unsere Fahrzeuge elektrifizieren und dann weitermachen wie bisher. Es braucht nicht nur mehr E-Mobilität, sondern auch mehr M-Mobilität.


M-Mobilität? 

Muskelkraft-Mobilität. Betrachtet man die Tatsache, dass in den Schweizer Städten rund 50 Prozent aller Autofahrten innerhalb von fünf Kilometern erfolgen, sind wir gut beraten, den Langsamverkehr zu fördern. Zum Beispiel dafür zu sorgen, dass die Städte dank breiteren Velowegen für Velofahrerinnen und Velofahrer attraktiver werden.


Das Velo ist im urbanen Raum tatsächlich oft schneller als andere Verkehrsmittel. Warum steigen trotzdem noch so viele Leute – auch zu Stosszeiten – ins Auto? 

Ganz einfach: Weil es bequem ist und weil wir es uns gewohnt sind. Bei der Verkehrsmittelwahl herrschen grosse Beharrungskräfte. Wir alle sind auf dem RĂĽcksitz sozialisiert worden, zudem gilt das Auto vielerorts nach wie vor als Statussymbol. Solange wir noch mehr Strassen und Parkplätze bauen, werden sich die Leute nicht vom Auto verabschieden. 


Die Politik trägt ihren Teil dazu bei: Der Bund will 5,3 Milliarden in den Ausbau von Autobahnen investieren. 

Es ist bedauerlich, dass wir das alte Leitbild des heutigen Verkehrssystems in die Zukunft betonieren. Es gibt in der Mobilität ein Sprichwort, das die Wissenschaft immer wieder bestätigt hat: Wer Autobahnen sät, wird Verkehr ernten. Dass die Politik trotzdem in diesen Bereich investiert, überrascht mich indes nicht.


Warum nicht? 

Politiker möchten wiedergewählt werden. Deshalb setzen viele auf populistische Massnahmen, die leicht nachvollziehbar Hilfe gegen Verkehrsprobleme versprechen. Ich kann das verstehen, doch mehr Strassen sind definitiv der falsche Ansatz, um den wachsenden Verkehrsdruck zu stoppen. 


Was ist zu tun? 

Es braucht starke Impulse, damit wir unser Denken verändern und andere Verkehrsmittel ĂĽberhaupt wahrnehmen. DafĂĽr benötigen wir möglichst klare und attraktive Botschaften. Entscheidend ist auch, dass die verschiedenen Interessensgruppen – zum Beispiel Auto- und öV-Vertreter – mit Verständnis und Offenheit aufeinander zugehen. 


Apropos öV: Welche Rolle kann und muss dieser in der Mobilität von morgen spielen? 

Der öffentliche Verkehr stellt das maximale Sharing-Instrument dar und ist ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Es ist richtig und wichtig, dass wir in den Ausbau des öffentlichen Verkehrssystems investieren. Damit der öV in Zukunft attraktiv bleibt und eine echte Alternative darstellt, muss er sich kontinuierlich weiterentwickeln. 


Woran denken Sie? 

Wir dĂĽrfen den öV nicht auf die klassischen Grossgefässe – Zug, Bus, Tram ­– reduzieren. Der Begriff «Mobility as a Service» triffts gut: Ziel muss es sein, verschiedene Mobilitätsformen zu bĂĽndeln und diese den Kundinnen und Kunden auf einer Plattform möglichst einfach zugänglich zu machen. 


Solche Angebote fehlen heute noch. 

Es wird uns dann gelingen, festgefahrene Mobilitätsroutinen zu durchbrechen, wenn wir den Menschen attraktive und effiziente Alternativen bieten. Es reicht nicht, nur Pull-Massnahmen wie neue Angebote oder Anreize zu schaffen – es braucht auch Push-Massnahmen in Form reduzierter Parkplätze und der Berechnung der wahren Kosten fĂĽr den Automobilverkehr. 


Auch die technologische Entwicklung spielt eine Rolle: Ende 2022 lancierte Mobility gemeinsam mit Partnern das Pilotprojekt «V2X Suisse» und demonstrierte damit, dass die bidirektionalen Ladetechnologie technisch möglich ist. Welches Potenzial sehen Sie in dieser Entwicklung? 

Die bidirektionale Ladetechnologie birgt ein enormes Potenzial. Wenn wir die Akkus der Elektroautos als Schwarmbatterie nutzen, kann das Auto zu einem Booster der Energiewende werden. Es ist eine Frage der Rahmenbedingungen, damit solche Technologien wirtschaftlich betrieben werden können. 


Ungeachtet von V2X: Welche Rolle spielt Carsharing im Mobilitätsmix der Zukunft? 

Die Idee, ein grosses Portfolio an verschiedenen Fahrzeugen nutzen zu können, die ich nicht besitzen muss, ist angesichts der zunehmenden urbanen Flächenproblematik ein elementarer Baustein einer intelligenten Mobilitätspolitik. Carsharing ergänzt den öffentlichen Verkehr ideal und kann Fälle abdecken, in denen das Velo oder der Zug weniger geeignet sind. Das Potenzial in diesem Bereich ist noch lange nicht ausgeschöpft. 


Inwiefern?

Die Digitalisierung bietet die Chance, den Zugang zu solchen Angeboten deutlich zu vereinfachen. KI-gestützte persönliche Assistenzsysteme werden die Verkehrsmittelwahl verändern und rationaler gestalten. Auch können Nutzerpräferenzen statt im Fahrzeug in der sogenannten Cloud gespeichert werden, sodass sich die Haptik von Leihfahrzeugen fast automatisch an die individuellen Präferenzen anpassen lässt.


Wagen wir zum Schluss einen Blick in die Zukunft: Wie sieht die Mobilität in 20 oder 30 Jahren aus? 

Das weiss niemand. Und es ist schwierig, zuverlässige Prognosen abzugeben. Es gibt schlicht zu viele Faktoren, welche die Entwicklungen in diesem Bereich beeinflussen können. 


Dann frage ich anders: Sind Sie optimistisch, was die Zukunft der Mobilität angeht? 

Allzu viele GrĂĽnde zur Zuversicht sehe ich im Moment leider nicht. Ein Problem ist, dass wir den Klimawandel noch nicht richtig spĂĽren. Oder anders: Noch ist der Leidensdruck nicht gross genug, damit wir bereit sind, unsere gewohnten Lebensweisen zu verändern. Gleichzeitig bin ich in meiner Rolle als Mobilitätsforscher zur Zuversicht verdammt. 


Das heisst? 

Entscheidend ist, dass wir als Gesellschaft eine gemeinsame neue Mobilitätsvision entwickeln. Wie soll die Stadt von morgen aussehen? Was ist unsere Vision fĂĽr das zukĂĽnftige Zusammenleben? Wenn wir uns aktiv mit diesen Fragen befassen und anschliessend die nötigen SchlĂĽsse ziehen, ist die Wende machbar. Das braucht Kraft und Ausdauer – aber es wird sich lohnen. 

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